pressespiegel

       

      Guck mal, was dich da bekrabbelt

      Mit Ganzkörpereinsatz: Rio Reisers Leben als Musiktheater

      Die Sehnsucht nach politischen Botschaften und greifbaren Feindbildern liegt aus nahe liegenden Gründen in der Luft - schließlich ist die "just for fun"- oder auch "just for art"-Brötlerei auf Dauer ganz schön oll und öde. Die im Zuge der Retrowelle ausgegrabenen oder neu erstellten Dokumentationen über Punkbands, Verweigerungskünstler und Terroristen vermitteln ein nie gekanntes oder längst erloschenes Britzeln, dieses "Mensch-hier-gehts-um-was", wonach einen ganz plötzlich eine heftige Sehnsucht erfasst.

      Deutsche Kinofilme wie "Blackbox BRD" oder "Der Traum ist aus - Die Erben der Scherben" stießen auf große Resonanz, allerdings auch auf harsche Kritik. Denn allzu leicht driftet der kritische Blick auf die heutige quicke und smarte Verwertungsgesellschaft ab in eine Verklärung der biederen Wohlstandsgesellschaft, in der ein Aufstand der Kinder gegen die Eltern noch sinnvoll war.

      Rio Reisers künstlerische Biografie reicht von den Endsechzigern bis fast heute - er ist 1996 gestorben. Er saß immer zwischen den Stühlen, war den revolutionären Zellen zu poetisch, den Intellektuellen zu politisch, der Musikindustrie suspekt und als "König von Deutschland" den alten Fans dann zu seicht. Ein idealer tragischer Held also.

      "Keine Macht für niemand" - Dieser Aufschrei nach Freiheit und Selbstbestimmung, ist der heute wirklich so exotisch?

      Diese Frage hat auch Pit Holzwarth und Renato Grüning vom Theater Strahl beschäftigt, die beiden Regisseure dieses Musiktheaters, das sich mit dem Werdegang Rio Reisers und seiner Politband Ton Steine Scherben beschäftigt. Stationen und Wendepunkte der Karriere werden durchgespielt. Zu jeder persönlichen (= geschichtlichen) Etappe sind entsprechende Slogans in die Szene eingebaut, daneben musikalische und akustische Reminiszenzen: Rio, ganz jung: "Ich bin anders. Und die Leute mögen das nicht, wenn man anders ist." Bürgerchor im Hintergrund singt ein Potpourri von Schlagern. Oder: Die Band zieht aufs Land. Dort bekrabbeln sie das Gras und ihre Körper, horchen in sich hinein und "hören, wie ich mich selbst höre" und spielen Tarot. Dem gegenübergestellt sind die politisch Radikalen, die die RAF gründen und in Isolationshaft gesteckt werden. Flugzeuglärm, Ho-Chi-Minh-Rufe.

      Es ist ein saftiges, buntes, nicht enden wollendes Kaleidoskop der jungen deutschen Geschichte, mit einem unglaublich großen mimischen Aufwand und Ganzkörpereinsatz. Aber so überraschend die Übergänge oft sind, so exemplarisch und eindeutig sind die Szenen. Das ist sehr schade. Denn auch wenn Klischees stimmen, sind sie langweilig, weil sie den Aspekt abbilden, der sowieso bekannt ist. So kann man einmal mehr über die Blüten, die eine Epoche so treibt, ablachen. Dabei wird recht sorglos mit Rio Reisers Biografie und mit der Sprache umgegangen, Rio soll hier nämlich mit Infusionen am Leben erhalten werden, während er in Wirklichkeit ganz plötzlich verstarb. Er redet bei den Aufnahmen vom "Rauch-Haus-Song" (1972) in einem Anfall von Selbstbezichtigung vom "Soundtrack der Linken" und hat auch sonst "alles auf’m Schirm". Wie er da so engagiert dargestellt wird als quicklebendig- zerrissenes Energiebündel, das sich in unendlicher Sehnsucht verzehrt und mit Drogen selbst zerstört, wie er immer exzentrischer und despotischer wird und seine Musiker tyrannisiert, eine Schnapsflasche in der Hand - da verwechsle ich ihn manchmal mit Jim Morrison. Ob das den Regisseuren auch so ging?

      Zwischendurch werden die Hits der Scherben, mehr oder weniger ins Stück integriert, live gespielt. Das machen die Schauspieler nicht schlecht. Trotzdem gerät das hauptsächlich deshalb zur Hommage, weil man wieder gewahr wird, dass Songs nicht in jedem Kontext funktionieren und, ach, vor allem: wie unvergleichlich Rio Reisers Stimme doch war.

      Rio Reiser - Der Kampf ums Paradies bis 16. Dezember Mi-So um 20 Uhr im BKA-Luftschloss. Kartentelefon: 20 22 007.

      Almut Klotz
      ["Berliner Zeitung", 17. November 2001]