pressespiegel

       

      Michael Kiessling

      Darf man Rio Reiser singen?

      Wie kam es zu der Gründung von »Neues Glas aus alten Scherben«?

      Einige Mitglieder von Ton Steine Scherben und der Rio Reiser Band standen 1996 gemeinsam bei der Abschiedsveranstaltung für Rio im Tempodrom in Berlin auf der Bühne. Dabei wurde die Idee für die Gründung von »Neues Glas aus alten Scherben« geboren, weil eigentlich alle weitermachen wollten. Damals waren vier Musiker dort, zwei von Ton Steine Scherben und zwei aus der Rio Reiser Band. Ihnen fehlte noch ein Sänger, der fest bei der neuen Band mitmachte. Es war klar, daß sie den innerhalb der Scherben-Family suchen wollten. Dann sind sie zufällig auf mich gestoßen. Der Pianist sah mich später mit meinem Theaterprogramm »Bukowsky waits for us« und fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, in dieser neuen Band zu singen. Ich habe spontan zugesagt. So bin ich dazu gekommen - der einzige in der Band, der neu dabei ist. Im Januar 1999 haben wir das erste Mal gemeinsam geprobt.


      Sie singen ausschließlich alte Lieder der Scherben und der Reiser Band?

      Bis jetzt schon, aber wir produzieren gerade eine neue CD, auf der dann nur noch zwei alte Songs sind. Damit werden wir im Oktober und November auf Tournee gehen.


      Den Kultsong »Keine Macht für niemand« sucht man vergeblich im Programm. Warum?

      Wir singen alles, bis auf zwei Ausnahmen: »Keine Macht für niemand« und »König von Deutschland«. Diese Songs sind absolut tabu, der eine steht einfach für Ton Steine Scherben, der andere für Rio Reiser. gibt einfach Songs, die einen bestimmten Stempel haben. Daran möchten wir gar nicht rühren Aber dazwischen ist alles erlaubt. Auch wenn wir mitunter ziemlich angefeindet werden, weil wir es wagen, die alten Sachen zu singen. Komischerweise treten diese Gralshüter meistens per Internet auf. Eine solche Diskussion per e-mail ist anonym. Wir hingegen stehen offen zu dem, was wir tun: Wir stehen auf der Bühne.
      Die Konzerte zeigen, daß es richtig ist, das zu tun. Bei dem Lied »Mein Name ist Mensch«, das ja schon 31 Jahre alt ist, flippen Leute aus, die damals noch gar nicht auf der Welt waren. Und das Lied hat trotz seines beträchtlichen Alters noch nichts an Aktualität verloren. Für uns - und das kann ich wirklich für uns alle sagen - ist das sozusagen unser ideologisches Zuhause. Daraus ergibt sich auch, wo wir auftreten. Wir haben z. B. den Wahlkampf der Grünen in Rheinland-Pfalz unterstützt. Das hängt allerdings damit zusammen, daß Claudia Roth die Managerin von Ton Steine Scherben war. Wir waren bei der Anti-Castor-Veranstaltung im Wendland dabei, haben vergangene Woche auf dem »Rage against Abschiebung«, organisiert von der Gruppe Regenbogen - für eine neue Linke, gespielt. Demnächst treten wir bei einer Veranstaltung gegen Rechts der PDS auf. Wir unter stützen alles, was ein menschliches Anliegen ist, und alle, die sonst keine Lobby haben. Rockmusik hat nun einmal den Vorteil, das Anliegen laut rausschreien zu können. Wir haben beispielsweise den Erlös unseres Abschlußkonzertes der Deutschlandtournee im vergangenen Jahr der »Aktion Sorgenkind«, die inzwischen »Aktion Mensch« heißt, geschenkt. Wir setzen uns mit jedem an einen runden Tisch, außer - um einmal Hans-Dieter Hüsch zu zitieren - mit einem Faschisten. Weil die faschistische Ideologie dem Gedanken, der hinter »Mein Name ist Mensch« steht, diametral entgegensteht.
      Unsere »Bandphilosophie« läßt sich am besten mit dem Wort Rebellendisco zusammenfassen. Disco umfaßt alles, was nicht lustfeindlich ist. Rebellen sind die, die nicht einverstanden sind mit dem, was die tun, die die Macht haben. Rebellen wie Klaus Störtebecker oder Robin Hood haben außerdem etwas durchaus romantisches, und das sollte Rockmusik auch haben.


      Interview: Birgit Gärtner

      »Neues Glas aus alten Scherben« on Tour, z.B. 14.7. Hamburg-Bergedorf (Wutzrock-Festival), 28.7. Nürnberg u. 1.9. Berlin (Hanfparade)

      ["Junge Welt", 02. Juli 2001]