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      Der Traum geht weiter - Fünf Jahre ist Rio Reiser tot

      Fünf Jahre ist es nun her, dass Rio Reiser am 20. August im friesischen Fresenhagen mit nur 46 Jahren starb. Die Nachricht über seinen Tod ging damals durch alle Nachrichten und war für viele ein Schock, denn kaum ein Sänger, kaum eine Band hatte die Menschen, vor allem die Linken, derart bewegt, wie es Rio und die Scherben getan hatten. Doch wer geglaubt hatte, dass mit Rios Tod auch der Mythos Scherben versinken würde, hat sich geirrt. Heute sind die Scherben, ist Rio Reiser offenbar aktueller und interessanter denn je. Das machen nicht nur die zahlreichen Sondersendungen am Wochenende vor dem fünften Todestag deutlich.

      In Fresenhagen, wo Rio Reiser beerdigt ist, fand am Wochenende vor dem 20. August ein Open-Air mit über zehn Bands statt. Das Rio Reiser Archiv hatte zum zweiten Mal einen Songwettbewerb ausgeschrieben. Das Thema lautete: „Heimat - Wo bin ich?“ Angesichts neonazistischer Umtriebe landauf landab mag das zumindest verwirrend klingen. Doch wer in Fresenhagen dabei war oder die Chance hatte, sich die auf drei CD gepressten insgesamt 65 eingereichten Songs anzuhören, weiß, dass es hier nicht um die heimatliche Scholle oder Heim und Herd ging. Gewonnen haben „Die Elenden“, denen das Rio-Reiser-Archiv bzw. Möbius Records eine komplette CD-Produktion spendiert. Aber das war nicht wirklich wichtig. Fast 2.000 Menschen sollen nach Angaben der Veranstalter in Fresenhagen dabei gewesen sein. Es ist schwer zu beschreiben, aber schon nach kurzem Aufenthalt auf dem Gelände hat man das Gefühl, dass tatsächlich etwas magisches von diesem Ort ausgeht. Gleich hinter dem Haus liegt das liebevoll gepflegte Grab von Rio, in der Mitte ein großes Herz, rundherum ein kleiner weißer Gartenzaun. Schon das sorgt dafür, dass trotz bebender Rockmusik („Timbuktu“, 3. im Wettbewerb) oder gemeinem Bratwürstchenstand immer etwas besinnliches dabei ist. Es gibt wohl derzeit nicht allzu viele Orte, bei denen das Gefühl aufkommt, mit den anderen irgendwie verbunden zu sein, obwohl man fast keineN kennt. Auch den Bands und KünstlerInnen von Gymmick (Nürnberg) über Klara Fall (Hamburg) und Bode (Harz) war anzumerken, dass dieses Open-Air etwas anderes war.

      Das Rio Reiser Haus ist inzwischen als öffentliche Gedenkstätte anerkannt und auch die Streitigkeiten um das Eigentum sind geregelt. Scherben-Gitarrist und -Komposer R.P.S. Lanrue, der seit einigen Jahren in Portugal lebt und die Scherben als abgeschlossen betrachtet, hätte Fresenhagen beinahe unter den Hammer gebracht. Er wollte aus Fresenhagen aussteigen und seine Hälfte am Anwesen verkaufen. Nur mühselig war es den Brüdern von Rio, Gert und Peter Möbius, gelungen, das Geld dafür aufzutreiben und damit den drohenden Verkauf an einen angrenzenden Golfclub zu verhindern. Jetzt soll Fresenhagen zu einer Kultur- und Begegnungsstätte ausgebaut werden, in der KünstlerInnen Raum für ihre Produktionen bekommen sollen. Ein komplettes Tonstudio ist dafür vorhanden. Auch sonst ist das Rio Reiser Archiv recht aktiv. Wenige Tage vor dem Open-Air hat das Archiv bei Möbius das Hörspiel „Teufel hast du Wind“ von Dietmar Roberg und Ton Steine Scherben auf CD neubearbeitet veröffentlicht. Damit liegt nun bereits die zweite - wenn man so will Kinder- und Jugendproduktion - aus dem Reiser-Archiv vor. Bereits im letzten Jahr war „Herr Fressack und die Bremer Stadtmusikanten“, ein Hörspiel von Ton Steine Scherben und Hoffmann´s Comic Theater erschienen. Der Praxistest verlief erfolgreich: der neunjährigen Lea drückte ich die CD in die Hand und bat sie, sich das mal anzuhören und noch Tage später dudelte das Ding über Vater Hansens CD-Player. Auch „Teufel hast du Wind dürfte“ daher nicht nur was für Sammler und hartnäckige Scherben-Freaks sein, sondern könnte noch den einen oder anderen emanzipativen und pädagogischen Nutzen haben. Wieder veröffentlicht wurde vor kurzem auch das bereits 1994 erschienene Buch „König von Deutschland“ von Rio Reiser. Da der Verlag Kiepenheuer & Witsch kein Interesse an einer neuen Auflage hatte, hat das Reiser-Archiv das jetzt erledigt.

      Für die etwas Älteren, Dabeigewesenen und Zuspätgekommenen dürfte allerdings der Film „Der Traum ist aus oder die Erben der Scherben“ von Interesse sein. Nicht nur wegen der vielen wunderbaren Bilder von den Scherben oder weil man die unterschiedliche Befindlichkeit Anfang der 70er Jahre und z.B. in den 90er Jahren nicht besser darstellen kann. Die Interviews mit den Bands, die als Erben der Scherben in irgendeiner Weise Songs gecovert (Sterne), gar ganze LPs neu aufgenommen haben (Das Department - Die Erben der Scherben - Keine Macht für Niemand) oder sich sonst wie auf die Scherben beziehen (Tocotronic, Nina Hagen, Element of Crime u.a.) liefern Stoff für jede Menge interessanter Gespräche. Einfach nur wunderbar sind Szenen, wie die mit Nickel Pallat, als er 1972 während einer Fernsehdiskussion die Axt aus der Tasche zieht und mal eben den Studiotisch auseinander nimmt, die Mikros abbaut und einsteckt. Macht Kaputt was euch kaputt macht! Oder Christine Rösinger (Britta), die erzählt, dass ihr Konzertbesuch bei den Scherben im tiefsten provinziellen Süden ihr ganzes Leben veränderte. In eher diesen privaten Tönen werden die Unterschiede damals und heute sichtbar. Das Aufbruchgefühl Anfang der 70er, das Gefühl, wir können die ganze Welt verändern ist spätestens in den 90ern verschwunden. Dort beklagen Bands wie Tocotronic, das sie gern Mitglieder einer Jugendbewegung sein wollen oder stellen fest: alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben. Und bei den Sternen reichte es nur noch zu der Forderung: „Fickt das System“. Nebenbei: Der Soundtrack zum Film erscheint dieser Tage im Hause „Indigo“. Regisseur Christoph Schuch gelingt es in seiner Dokumentation auf wirklich schöne Weise der Frage nachzugehen, was aus den Scherben und vor allem dem Traum geworden ist. Dabei geht es nicht so sehr um politische Fragen, sondern eher um Motive, Gefühle und Möglichkeiten, wie sie waren und wie sie heute sind. Sicherlich könnte man auch nach dem Film frustriert nach Hause gehen („damals war es einfach besser...“). Aber wir alle wissen: Der Kampf geht weiter, bis der Traum Wirklichkeit wird.


      Dirk Seifert

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