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      In den Fesseln der Archäologie

      Rio singt hier nicht mehr: Ein Musical über die Polit-Band Ton Steine Scherben

      Fünf Jahre nach seinem Tod scheint Rio Reiser gefragter denn je. Abi-Bands spielen seine Songs, ein Sampler mit Hip-Hop-Versionen ist erschienen, der Film "Der Traum ist aus" folgt seinen Einflüssen auf heutige Gruppen. Diese Wiederentdeckung war längst überfällig, Reiser führte die erste und bis heute vielleicht beste deutsche Rockband an. Ton Steine Scherben gehören zur Geschichte der Bundesrepublik wie Heinrich Böll und die WM-Elf von '74. Nun nimmt sich ein Musical seiner an. Es trägt den Titel "Der Kampf ums Paradies" und wird vom Berliner Theater Strahl in Zusammenarbeit mit der Bremer Shakespeare Company auf die Bühne gebracht. Am bemerkenswertesten ist, dass es scheitert und zugleich demonstriert, was die Scherben so faszinierend machte.

      Die Geschichte scheitert, da auf der Bühne ein Geschichtslehrgang absolviert wird. Das Autoren-Duo Pit Holzwarth und Renato Grünning bastelt die siebziger Jahre der BRD zusammen: Vietnamkrieg und Studentenproteste, die brutale Reaktion des Staates. Hausbesetzungen, Baader, Ensslin, Meinhof, ihr kongenialer Gegenspieler, BKA-Chef Horst Herold. Rasterfahndung, Isolationshaft, die Nacht von Stammheim. Ein Versuch, den historischen Humus zu beschreiben, auf dem Ton Steine Scherben wuchsen und den sie selbst befruchteten. Doch der Boden bleibt steril. Man möchte mit Troja-Entdecker Heinrich Schliemann ausrufen: "Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben." Alles liegt irgendwo vergraben und verstreut, man stolpert durch die Siebziger.

      Auch Reiser und seine Bandkollegen bleiben blass. Reisers Homosexualität wird thematisiert, auch der Fixertod seiner großen Liebe Jean-Michel, über den Rio nie hinwegkommt. Episodenhaft erfahren wir etwas über Streits innerhalb der Band, dass sie einer Platte mal 10 000 Spatzenschleudern "Made in Hongkong" beilegen wollten. Die Band zieht in eine Landkommune, um dem Druck der RAF zu entkommen und interessiert sich jetzt weniger für den politischen Kampf. Weil man die Welt nicht verändern kann, verändert sich das Bewusstsein. Aus Politik wird Poesie. Aber die Personen sind wie Abziehbilder, keine ist lebendig. All das ändert sich schlagartig, sobald Reiser-Darsteller Sebastian Mirow das Mikrofon in die Hand nimmt und die Band sich ihre Instrumente umschnallt. Man will aufstehen und tanzen, rausgehen auf die Straße und was kaputtmachen. Diese Band hat Puls und Kraft, sie spielt die Scherben besser als es die Scherben selbst gekonnt hätten. Der Sinn eines Rio-Reiser-Musicals ergibt sich aus der Musik. Aber gibt es ein richtiges Musical im falschen Theaterstück?

      Reiser starb mit 46 Jahren viel zu früh, aber zu spät, um eine Legende zu werden. Deshalb gilt er vor allem denen, die ihn erlebten, als Held. Der Untertitel des Musicals lautet "Fantasie über einen Mythos". Doch Mythos bedeutet, wenn einer über seine eigene Generation hinaus faszinierend und lebendig bleibt. So hatte Wolfgang Stüßel, Leiter des Strahl Theaters, die Idee zu dem Musical, als er die Punk-Band seines Sohnes im Keller das Scherben-Lied "Ich will nicht werden, was mein Alter ist" proben hörte. Gerade Jugendlichen aber dürfte das Stück eher enigmatisch erscheinen.

      "Der Kampf ums Paradies", bis 16.12., Mi - Sa, 20 Uhr, Mi und Do auch 11 Uhr. BKA Luftschloss (Mitte).

      Philipp Lichterbeck
      ["Der Tagesspiegel", 20. November 2001]